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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 05.02.2007


Gesundheitsreform und Gender Mainstreaming
Clarissa Lempp

Am 02.02.2007 wurde das Gesetz zur Wettbewerbsstärkung der Krankenversicherungen angenommen und damit der Weg zur Gesundheitsreform geebnet. Die Gleichberechtigung bleibt vorerst auf der Strecke




Heiß diskutiert und lange erwartet: die Gesundheitsreform. Am 2. Februar 2007 wurde der Gesetzentwurf zur Wettbewerbsstärkung in der Gesetzlichen Krankenversicherung vom Deutschen Bundestag beschlossen. Hier geht es vor allem um Vorteile der Kostenumverteilung und der Effizienzverstärkung der Krankenkassen durch ein differenzierteres Angebot im Wettbewerb. Aber was bringt die Gesundheitsreform den PatientInnen konkret?

Die wichtigsten Änderungen für PatientInnen im Überblick:

  • Ab 2009 gilt die Versicherungspflicht. Für BürgerInnen, die der gesetzlichen Versicherungspflicht unterliegen, gilt dies bereits ab dem 1. April 2007. Ehemals Privatversicherte, die ihren Schutz wegen Zahlungsunfähigkeit verloren haben, können ab dem 1. Juli 2007 in den Standardtarif ihrer letzten Privatversicherung zurückkehren. Das kommt vor allem den ca. 200 000 Nicht-Versicherten in Deutschland zu Gute. Für diese verspricht Ulla Schmidt: "Willkommen in der Solidarität!"
  • Die Privaten Krankenkassen müssen einen Basistarif anbieten. Bei diesem darf es keine Gesundheitsprüfung geben. Allerdings wirken hier Alter und Geschlecht auf die Tarifeinstufung ein.
  • Ab 1.4.2007 müssen die Kassen unterschiedliche Versorgungsmodelle, sogenannte Wahltarife, anbieten. Somit soll z.B. die Eigenverantwortung der PatientInnen stärker belohnt werden.
  • Künftig sollen sich Krankenhäuser stärker für die ambulante Behandlung chronisch Kranker und PatientInnen mit sehr schweren Leiden öffnen. Dadurch wird ihnen eine professionelle Therapie ermöglicht und sie können trotzdem zu Hause gepflegt werden.

    Der Deutsche Frauenrat bezweifelte allerdings zu Recht die Berücksichtung geschlechtsspezifischer Unterschiede im Gesetzesentwurf. Deshalb wandten sie sich an die gesundheitspolitischen SprecherInnen und Fraktionsvorsitzenden des Bundestages, an die PatientInnenbeauftragte der Bundesregierung und die federführende Ministerin Ulla Schmidt. "Damit kommen Bundestag und Bundesregierung erneut der Verpflichtung, das Prinzip des Gender-Mainstreamings anzuwenden, nicht nach", heißt es in dem Schreiben der Frauenlobby. Und weiter: "Dabei wäre die Verankerung der Berücksichtigung von geschlechts-, alters- und lebenslagenspezifischen Unterschieden in diesem Gesetz um so notwendiger, als die in der Gesundheitsversorgung beteiligten Akteurinnen und Akteure von sich aus nur sehr zögerlich oder gar nicht geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigen und die wenigen, die dies tun, in ihrer Haltung nicht ermutigt werden."

    Mechthild Rawert, SPD-Bundestagsabgeordnete und Berichterstatterin für Frauen und Gesundheit im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags, ließ hingegen verlauten, dass ein Schritt zu mehr Geschlechtergerechtigkeit innerhalb des Gesundheitssystems gelungen sei. Entgegen dem "massiven Widerstand der Union" habe sie durchgesetzt "dass der Deutsche Bundestag im Rahmen seiner Abstimmungen zur Gesundheitsreform die Bundesregierung nachdrücklich dazu auffordert, die Gesundheitsversorgung geschlechtergerecht sowie nach alters- und lebenslagenspezifischen Gesichtspunkten" auszubauen.

    Tatsächlich finden sich aber keine spezifischen Formulierungen oder Zusätze in den Gesetzesentwürfen, die eine Berücksichtigung von geschlechts-, alters- und lebenslagenspezifischen Unterschieden anzeigen. Dabei ist auch die Gesundheitspolitik dazu angehalten, dem Auftrag des Grundgesetzes gemäß eine bedarfsgerechte gesundheitliche Versorgung für Frauen und Männer zu verfolgen.

    Geschlechterspezifische Aspekte in der gesundheitlichen Versorgung beschränken sich allerdings auf den gynäkologischen Fachbereich und die Einschätzung bestimmter Erkrankungen als typische "Frauenkrankheiten" bzw. "Männerkrankheiten". Zwar wurden bereits erste Schritte wie Frauengesundheitszentren und Frauengesundheitsnetzwerke eingeleitet. Es muss aber darum gehen, Geschlechterspezifik als ein strategisches Gestaltungsmerkmal der Gesundheitspolitik wahrzunehmen.

    Dass die gesundheitliche Lage von Frauen und Männern verschieden ist, liegt nicht allein an den körperlich-biologischen Besonderheiten. Auch gesundheitlich relevante Arbeits- und Lebensbedingungen unterscheiden sich ebenso wie der geschlechtsspezifische Umgang mit Belastungen und gesundheitlichen Störungen. Soll z.B. die Eigenverantwortung der PatientInnen stärker belohnt werden, muss dabei berücksichtigt werden, dass Frauen häufiger zu Vorsorgeuntersuchungen gehen und Kontrolltermine sorgfältiger wahr nehmen.

    Der geschlechtergerechte Ausbau der Versorgungssysteme bleibt jetzt in der Hand der Krankenkassen. Diese benachteiligen Frauen aber seit jeher mit höheren Beiträgen, um das "Reproduktionsrisiko" abzudecken. Dass zur Fortpflanzung aber immer Zwei gehören müsste doch noch jede/r aus dem Biologieunterricht kennen...

    Durch das Gesetz soll auch der Beschäftigungsbereich des Gesundheitswesens gestärkt werden. Frau Schmidt verweist darauf, dass sich hier "übrigens gerade auch für Frauen" viele qualifizierte Arbeitsplätze finden und sich "neue Chancen eröffnen, indem wir die nichtärztlichen Berufe stärker in die Versorgung einbeziehen."
    Auch hier wurden die Hausaufgaben zu Gender-Mainstreaming nicht gemacht: Es ist Zeit, dass den Krankenschwestern Brüder zur Seite gestellt werden, denn: gleiche Chancen für alle Geschlechter ist schließlich das Ziel...

    (Quellen: DEUTSCHER FRAUENRAT, Presseinformation, 30.01.2007, Nr. 02/07,
    Bundestagsabgeordnete Mechthild Rawert, Pressemitteilung, 02.02.2007,
    Bundesministerium für Gesundheit, Pressemitteilung, 02.02.2007)

    Der Gesetzentwurf zur Wettbewerbsstärkung der Krankenversicherung (GKV-WSG) ist einsehbar.

    Eine Stellungnahme und Änderungsvorschläge von "Weibernetz" (Bundesnetzwerk von Frauen Lesben und Mädchen mit Beeinträchtigung) zum GKV-WSG.

    Einfache Informationen zur Gesundheitsreform bietet die Bildergalerie der ZEIT.

    Ausführliche Informationen des Gesundheitsministeriums.

    Tipps und Informationen zu Frauengesundheit in Berlin.

    Informationen zu Themen der Frauengesundheit finden sich bei der
    Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung .

    Feministisches Frauen Gesundheits Zentrum e.V. Berlin:
    www.ffgz.de

    Buchtipp:
    Unbekannte Patientin


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    Beitrag vom 05.02.2007

    Clarissa Lempp